Auf zugezogene Schwaben schimpfen die Berliner gern. Dabei verdanken sie ihnen vieles. Ein Bummel durch die Migrantenviertel.
»Anti-Schwa« hat einer an die Fassade der Schwäbischen Bäckerei in Prenzlauer Berg gesprüht. In Großbuchstaben. Schmierereien gehören hier so sehr zum Stadtbild, dass man es fast übersehen hätte. Aber seit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse in einem Interview vor einigen Tagen über Schwaben lästerte, die begreifen sollten, »dass sie jetzt in Berlin sind. Und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche«, und die in diesem Bezirk seit Jahren schwelende Schwabenhass-Debatte wieder aufflammte, schaut man doch genauer hin. Erst recht vor einer Bäckerei. Schließlich mokierte sich Thierse darüber, dass in seinem Kiez nicht mehr Schrippen, sondern Wecken verkauft würden.
Und wirklich, hier in der Schwäbischen Bäckerei findet man sie, die schwäbische Seele – als längliches Brötchen mit Salz und Kümmel, eine Spezialität. Diesen Laden kann Thierse trotzdem nicht gemeint haben: Es gibt zwar Brezeln, aber keine Wecken, nur Brötchen. Und das Zwetschgendatschi, das er irgendwo gesehen haben will, ist sowieso eher bayerisch. Die Verkäuferin winkt ab, dass ihre gemustert lackierten Fingernägel blitzen. Die Kundschaft amüsiere sich bloß über diese Debatte, sagt sie. Es ist eine von vier Filialen in der Stadt, der Chef ist zwischen Bruchsal und Pforzheim aufgewachsen und stammt somit streng genommen aus Baden. Wurscht.
Es mag Zufall sein, dass sich Thierse in seiner Überfremdungstirade ausgerechnet über Brötchen beschwerte. Aber er traf damit das Thema, das Schwaben im Exil zusammenhält: das Essen. Und vor allem die Suche nach Brezeln, Seelen, Wecken, den Dingen eben, die nach ihrer Kindheit schmecken. Einigen fehlte die Heimatküche so sehr, dass sie begannen, den Berlinern anzubieten, was sie selbst am meisten vermissten. Sei es Iris Schmied aus Reutlingen mit ihrem Restaurant Alpenstück, Wolfgang Stepper aus Hohenlohe, der in seinem Spezialitätenladen alles von Wein über Spätzlesmehl bis hin zu Süßigkeiten verkauft, oder eben der badische Bäcker Oliver Sporys mit seiner Schwäbischen Bäckerei.
Die mit »Anti-Schwa« besprühte Filiale ist um die Ecke vom Kollwitzplatz, also dort, wo Wolfgang Thierse schon seit DDR-Zeiten wohnt. Samstags schlängelt sich ein Markt um den großen Kinderspielplatz in der Mitte, viel Bioware wird verkauft, Handgenähtes aus Sri Lanka; an einem Stand gibt es Macarons und Petits Fours. Wer in Berlin von Gentrifizierung sprach, meinte lange Zeit vor allem dieses Viertel. Hier kam wohl auch das Feindbild des »Schwaben« auf. Gemeint sind Besserverdienende aus der westdeutschen Provinz – die Einzigen eben, die sich die Mieten und Kaufpreise der sanierten Gründerzeitbauten noch leisten können. Für sie alle steht, passend zum Thema, der schwäbische Häuslebauer. Ob jemand Schwabe, Badener oder Bayer ist, hat Berliner sowieso nie gekümmert.
Auf den Schildern und Plakatwänden im Quartier steht nicht nur »Schwaben raus«, sondern auch »Yuppies raus«. Zettel an Stromkästen maulen über »schwäbische Spießigkeit«. Über ein Kellerfenster kritzelte einer zart mit Kreide »Tötet Schwaben«. Ganz neu ist diese Wut nicht. Schon 2008 kürten die Leser des Stadtmagazins Zitty den »Porno-Hippie-Schwaben« zum größten Ärgernis, und noch zwei Jahre früher hingen zur Weihnachtszeit im gesamten Bezirk Poster mit Ortsausgangsschildern: »Stuttgart-Sindelfingen: 610 Kilometer« stand darauf und »Ostberlin wünscht gute Heimfahrt«. So wirkt es fast wie Trotz, dass das Café im Erdgeschoss von Thierses Zuhause riesengroß »Berliner Eisbein, Berliner Leber, Berliner Currywurst« anpreist. Kässpätzle gibt’s aber auch.
»Ich sage immer, ich komme aus Süddeutschland«, sagt Iris Schmied. Die Chefin des Restaurants Alpenstück in Berlin-Mitte zieht sich noch eine schwarze Fleecejacke über ihren dunklen Pulli, es ist frisch in ihrem Büro. Sie ist aus Reutlingen, seit zwanzig Jahren lebt sie in Berlin. Als Studentin hatte sie irgendwann die Döner und Minipizzen satt und kochte selbst für ihre Freunde. Kässpätzle, immer wieder. Die Idee, ein eigenes Restaurant mit Heimatküche aufzumachen, hatte sie schon, als sie noch Chefin der Bar Rheingold war. 2007 eröffnete sie dann ihr Lokal in der Gartenstraße, einer stillen Wohnstraße nördlich der Torstraße; sie kann den Eingang gegenüber von ihrem Schreibtisch aus sehen. Es gibt ausgezeichnete Kässpätzle, Maultaschen, Kalbsleber und hinterher ein Hausschnäpsle. Der etwas versteckte Laden lief schon nach ein paar Wochen so gut, dass man ohne Reservierung kaum mehr hineinkam.
Neben Schmieds Schreibtisch lehnt ein Poster, »In food we trust« steht darauf. Das Vertrauen hat sich ausgezahlt: Mittlerweile gehört ihr ein kleines schwäbisches Imperium in der Straße. Die »Manufaktur« verkauft schwäbischen Kartoffelsalat, Schupfnudeln und Kasseler mit Sauerkraut zum Mitnehmen. Brezeln und Seelen gibt es in der Bäckerei nebenan. Der Feinschmecker hat sie sogar zu einer der besten in Deutschland gewählt.
Die Debatte, die Thierse angefacht hat, findet die 44-Jährige albern. Schon in den Neunzigern, erinnert sie sich, schimpfte man über die Schwaben in Kreuzberg. Soll Thierse doch in eine andere Bäckerei gehen. Überhaupt: »Ein Weck ist nun einmal keine Schrippe, die Berliner Schrippe wird ganz anders hergestellt.«
Wie gesagt, mit ihrem Essen nehmen es die Schwaben genau. Auch Wolfgang Stepper, der in Schöneberg einen kleinen Spezialitätenladen hat. »Wenn die Seelen zu lang oder zu dick sind, lasse ich sie zurückgehen«, sagt er und nimmt noch einen Schluck von dem Trollinger, der vor ihm auf dem Tisch steht, mitten in seinem Laden. Wer bei ihm abends reinkommt, bekommt erst einmal ein Viertele angeboten. Ein Stammkunde sitzt gerade auch da, isst eine Seele mit Leberkäse, man »schwätzt« halt ein bisschen, das gehört dazu.
Steppers Geschäft heißt Ebbes. Es passiert schon mal, dass ihn jemand mit »Herr Ebbes« anspricht, dabei bedeutet der Name auf Hochdeutsch schlicht »etwas«. Und davon gibt es bei Stepper reichlich. Seit Ende der Siebziger lebt der gelernte Setzer in der Stadt. Als die Druckereien, für die er arbeitete, eine nach der anderen Pleite machten, setzte er auf das, was für ihn in Berlin Mangelware war: Schäufele, Ochsenmaulsalat, Landjäger. Und Maultaschen natürlich. »200 Kilo habe ich davon vor Weihnachten verkauft«, sagt er. Immer wieder musste er in den vergangenen Tagen die Kundschaft vertrösten: Er hat keine mehr. Es gab noch keine Lieferung nach Weihnachten. »Die da unten arbeiten noch nicht wieder, verstehste«, sagt er und meint die Schwaben. Ein Berliner »verstehste« mogelt sich bei ihm dauernd zwischen das Schwäbeln, immer wieder auch »ick«, »ooch« und »wa«. Er regt sich trotzdem über den Müll auf, der nach der Silvesternacht überall auf den Straßen rumlag. »Aber wir haben ja jetzt einen schwäbischen Polizeichef in Berlin, da kehrt endlich wieder Ordnung ein.«
Stepper und seinen Laden kennen die Berliner Exilschwaben natürlich. Auch Achim Ruppel schaut manchmal rein. Er ist Schauspieler und seit 1979 in der Stadt. Vergangenen Herbst hat er mit der Schwabiennale eine Kulturwoche mit Spezialitäten, Musik und Theater gefeiert. Die Schwabenhass-Debatte hat ihn angespornt. Sein Motto: »Hassen dürft ihr uns, aber zuerst wird gevespert.« Ruppel wohnt ausgerechnet am Stuttgarter Platz in Charlottenburg, dem wohl schwäbischsten Ort in Berlin: Hier ist die einzige Fußgängerzone der Stadt (die kleine in Alt-Tegel zählt nicht). »Ein fürchterlicher Ort«, findet er allerdings.
Sein Theaterstück Schwabenhatz zeigt, wie ähnlich sich Schwaben und Berliner sind, und sei es nur im trotzigen Nachsatz »gell« beziehungsweise »wa«. Ab März wird das Stück wieder aufgeführt, in Berlin und Stuttgart. Die Völkerverständigung ist übrigens schon geglückt: Die Graffiti fürs Bühnenbild hat einer gemacht, der selbst schon »Schwaben raus« an Berliner Fassaden gesprayt hatte.
Auch vor dem Hotel Michelberger an der Warschauer Brücke stand eine Weile auf einer Tafel: »Ein Hotel für alle außer: Schwaben, Engländer und Iren ab einer Anzahl über fünf Personen oder in Superman-Kostümen«. Tom Michelberger lacht, als man ihn darauf anspricht. »Das hatte nichts zu bedeuten«, sagt der Mittdreißiger mit dem angedeuteten Schnauzbart. »Wir wollten nur verhindern, dass größere Gruppen die Atmosphäre stören. Und um zu zeigen, dass es uns nicht um Nationalitäten geht, haben wir uns mit draufgeschrieben.« Er ist selbst Schwabe aus Bad Saulgau, und eine Seele, die ihm schmeckt, hat er in Berlin noch nicht gefunden. Aber Abgrenzungen sind nicht sein Ding, »eine Metropole lebt von den Impulsen von außen«, findet er.
Sein Michelberger, eröffnet 2009 in einem alten Fabrikgebäude, ist sicher das eklektischste Hotel der Stadt. Das Café und die Bar haben mehr von einer Sofalandschaft, Bücher sind in Gitterkörbe gefüllt, die Lampen haben Zeitungsfransen, und die Wände sind unverputzt. »Wir wollten einen Ort schaffen, an dem wir uns wohlfühlen«, sagt Tom Michelberger. Eine Filiale in Brooklyn ist geplant. »Moment mal«, er steht auf, hastet zur Bar und greift eine Flasche von einem angestrahlten Wandaltar. »Das ist unser Kräuterlikör«, sagt Michelberger, »hergestellt in einer Berliner Manufaktur – aber einer der Geschäftsführer ist auch ein Schwabe.«
Die süddeutschen Tupfer bei der Einrichtung hält er für Zufall: »Uns ging es um Gemütlichkeit.« So sieht der hellgraue Speisesaal eben aus wie die Neuerfindung eines Landgasthauses, mit langen Tafeln und rot-weiß karierten Servietten. Das viele Holz, der Kleinkram mit Geschichte, sie zitieren die Provinz, ohne provinziell zu wirken. Seien es die Kuckucksuhren gegenüber der Rezeption oder die Handvoll kleiner Äpfel, die neben dem Gästebuch liegen wie frisch von einer Streuobstwiese. Oder eben die altertümliche Mustertapete in den Zimmern, die bei genauem Hinsehen eine wilde Mischung aus kleinen Dingen ist: Bohrer, Blitze, Bowling-Pin, jedes Symbol steht für einen aus der Hotelcrew. Michelberger ist, na klar, eine Brezel.
Apropos: Wolfgang Thierse könnte im Übrigen ausgerechnet in der Schwäbischen Bäckerei finden, was viele Ostberliner für ausgestorben halten – die gute alte Ostschrippe. Sie liegt passenderweise direkt neben einer anderen Brötchenspezialität: dem Schwabeneck.
Nachtrag:
Man muss das notwendigerweise einmal erlebt haben, wie im Prenzlauer Berg wider die Schwaben gehetzt wird. Deswegen sollten Sie bei dem Berlin-Besuch eine Berlin Sightseeing bestellen, welche Ihnen das Viertel genau zeigt.
Übernommen aus:
http://www.zeit.de/2013/03/Berlin-Schwaben